Ein Blick in den Kochtopf digitaler Methoden für die Technikfolgenabschätzung
Pauline Riousset | 28. März 2023
Mit der Digitalisierung und insbesondere der generativen KI wandelt sich der Beruf von Wissenschaftler/innen in unterschiedlichen Weisen. Der Release von ChatGPT hat zum einen zu einer steigenden Anzahl von Plagiaten in der Wissenschaft geführt, zum anderen zu ganz neuen wissenschaftlichen Kooperationen (mit ChatGPT selbst!). Wie sich ChatGPT auf den Wissenschaftsbetrieb ausgewirkt hat und sich künftig auswirken könnte, untersucht mein Kollege Steffen Albrecht aktuell in einer kürzlich vom Bundestag beauftragten Studie. Wie innovative digitale Methoden für die wissenschaftliche Politikberatung genutzt werden können, ist hingegen eines meiner persönlichen Lieblingsthemen.
Digitale Werkzeuge sind für unsere Arbeit am TAB von großer Bedeutung – und das nicht erst seit des Release von ChatGPT. Sie helfen uns dabei, in der Masse der täglich neu erscheinenden Publikationen die relevantesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Innovationen zu identifizieren, die weitreichende Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt haben könnten. Seit meinem Studium an der SciencesPo Paris, wo ich mich unter anderem mit der Kartierung von Kontroversen anhand von Onlinedaten beschäftigt habe, bin ich fasziniert für diese Art der Analyse. Nach meinem Grundstudium habe ich im Rahmen eines Forschungsaufenthalts am MIT an der Entwicklung einer Software zur Erfassung und Visualisierung der Auswirkungen der Schiefergasextraktion mitgewirkt. Nun halte ich stets ein Auge offen für die neuesten und innovativsten digitalen Wissenswerkzeuge, die dabei helfen können, relevanten soziotechnischen Entwicklungen auf die Spur zu kommen, Forschungs- und Wissenslücken zu identifizieren und Handlungsbedarfe für den Bundestag aufzudecken.
Besonderen Anlass dafür gibt mir aktuell das geplante International Handbook of Technology Assessment, das von Prof. Dr. Armin Grunwald herausgegeben wird und für das ich einen Beitrag zum Thema „Digital Methods for Technology Assessment“ schreibe. Meine drei Mitautoren sind Lionel Villard, Anders Koed Madsen und Nicolas Baya-Laffite, die sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit sehr intensiv mit dem Nutzen von digitalen Wissenswerkzeugen beschäftigt haben. Ich stelle sie und ihre Leuchtturmprojekte im Folgenden kurz vor.
Lionel Villard ist Dozent an der ESIEE, Hochschule für Innovation und Entrepreneurship in Paris und Forscher am LISIS, einem interdisziplinären Forschungslabor, das sich der Analyse von Wissenschaft und Innovation in Gesellschaften widmet. Lionel Villard leitet die CorText Platform, eine Web-Anwendung, die darauf abzielt, die Forschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften über Entwicklungstrends in Wissenschaft, Technologie und Innovation zu stärken. Sie verschafft Wissenschaftler/innen ohne Programmierkenntnisse Zugang zu analytischen Werkzeugen, um anhand ausgewählter Datensätze (z.B. Patente, Publikationen, Medienbeiträge) die für sie relevanten Fragen zu beantworten und Ergebnisse zu visualisieren. Dabei können Innovationsökosysteme kartiert, soziale Dynamiken in der Produktion von Wissen untersucht und die Entwicklung und emotionale Ausprägung (sentiment analysis) von Onlinediskursen in Gesellschaft und Fachkreisen nachvollzogen werden. Die Stärke der Plattform besteht insbesondere darin, verschiedene analytische Dimensionen kombinieren zu können, wie beispielsweise die automatische Analyse von Texten (Text Mining) mit einer zeitlichen, sozialen oder geographischen Komponente. Konkret können mit ihrer Hilfe folgende Aufgaben erledigt werden:
- Innovationshotspots identifizieren und verorten
- die Wahrnehmung von Technologien (positiv, negativ, neutral) in Fachkreisen und in der Bevölkerung analysieren, polarisierende Entwicklungen abschätzen und Hinweise auf Handlungsdruck sammeln
- Forschungstrends und -lücken aufdecken
- die Effektivität von Instrumenten der Innovations- und Forschungspolitik evaluieren
Mein zweiter Ansprechpartner, Anders Koed Madsen, ist Professor am TANTLab an der Aalborg Universität in Dänemark. Ein Teil seiner Arbeit verbringt er damit, digitale Methoden für die Erforschung soziotechnischer Entwicklungen zu erproben. In Zusammenarbeit mit dem Danish Board of Technology (Partner des TAB im EPTA-Netzwerk) hat er kürzlich untersucht, wie digitale Methoden und speziell die Auswertung von Twitter-Daten als Element von Beteiligungsverfahren in der Technikfolgenabschätzung eingesetzt werden können. Ziel des sogenannten Data Sprints war es, die Bedenken von Bürger/innen in Bezug zu Epidemien, Pandemien und Impfungen besser zu verstehen. In seinem Projekt ist er zusammen mit Kolleg/innen auf die Suche nach relevanten Erzählungen auf Twitter gegangen, die Dilemmata im Umgang mit den genannten Themen illustrieren, und eine große Anzahl von Personen in unterschiedlichen Communities zur aktiven Teilnahme in den sozialen Medien bewegt haben. Eine der ausgewählten Erzählungen bezog sich beispielsweise auf die Frage, ob die gesundheitliche Bedrohung durch den Zika-Virus zu einer Verschiebung oder Verlegung der Olympischen Spiele 2016 in Brasilien führen sollte. Die Ergebnisse der Datenauswertung bzw. die Erzählungen wurden mit Bürgerinnen und Bürgern diskutiert. Anders und sein Team zeigen an diesem Beispiel, wie es gelingen kann, die partizipative Bewertung aufkommender Technologien durch Onlinedaten und visuelle Zugänge zu Informationen anzureichern.
Nicolas Baya-Laffite schließlich, Professor an der Universität in Genf (und zuvor Dozent und Forscher am médialab von SciencesPo Paris), untersucht konflikthafte Dynamiken mithilfe von digitalen Methoden und widmet sich zugleich der Frage, wie digitale Methoden die Analyse von Wissenschaft, Technologie und Innovation verändern.
Mit Nicolas, Anders und Lionel habe ich intensiv darüber diskutiert, welche Chancen digitale Methoden für die TA in Zukunft mitbringen. Neben den oben erwähnten Vorteilen einer Plattform wie CorText kamen wir zu dem Ergebnis, dass digitale Methoden dabei helfen können, die eigenen Annahmen zu den Auswirkungen einer Technologie zu reflektieren und neue Informationen leichter und kontinuierlich erfassen. Mit Topic Modelling können beispielsweise aus einem Textkorpus Themen automatisch identifiziert und kategorisiert werden, und als Input für Experteninterviews, Fokusgruppen oder eine Befragung genutzt werden. So kann eine Analyse der Beiträge zu ChatGPT auf soziale Medien dazu beitragen, nahezu in Echtzeit aufkommende Anwendungsfelder in großen Datenmengen zu entdecken und wichtige Ansprechpartner/innen bzw. Meinungsbildner/innen zu identifizieren, die uns ihrer Expertise in einem Anwendungsfeld zur Verfügung stellen können.
Zusammen haben wir auch diskutiert, welche Besonderheiten digitale Methoden mit sich bringen und wie damit am besten umzugehen ist. Ein Vorteil von digitalen Datensätzen ist insbesondere ihre Echtzeitfähigkeit: In kurzer Zeit ist es möglich, sich einen schnellen Überblick über aktuelle Entwicklungen zu verschaffen. Dabei sind jedoch Kenntnisse über die jeweiligen Werkzeuge, über das, was sie leisten können und was nicht, von zentraler Bedeutung, um aus den Datensätzen keine falschen Schlüsse zu ziehen. Beim Umgang mit unstrukturierten Datensätzen wie z.B. Beiträgen in sozialen Medien, muss etwa berücksichtigt werden, dass – anders als bei empirischen Befragungen – keine Repräsentativität der Bevölkerung gegeben ist, da sich an Online-Diskussionen sich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung beteiligt . Deswegen sind Kenntnisse über die Art der Nutzer/innen eines Mediums bei der Interpretation der Daten unabdingbar. Außerdem sind die Ergebnisse einer Analyse oft nicht reproduzierbar, da Onlinedaten meist flüchtig sind. Die Art und Weise, wie Erkenntnisse abgeleitet werden können, unterliegt also anderen Regeln als herkömmliche empirische Methoden in der TA oder der Soziologie.
Mehr möchte ich aus unseren fortlaufenden Arbeiten vorerst nicht verraten. In unserem Buchkapitel gehen wir darauf ein, welche digitalen Methoden bereits Standardwerkzeuge der TA sind, welche Best-Practice-Beispiele Inspiration für zukünftige Forschung und wissenschaftliche Beratung liefern können und wo wir aus der interdisziplinären und internationalen Zusammenarbeit noch weiter lernen können. Mehr dazu lässt sich in unserem Beitrag für das Handbook nachlesen, das Ende des Jahres erscheinen soll.