Wunscherfüllung durch Technik
Die Fortpflanzungsmedizin, auch als assistierte Reproduktionstechnologie bezeichnet, stellt mittlerweile ein anspruchsvolles Arsenal technologischer Optionen für Paare mit unerfülltem Kinderwunsch bereit. Das aktuelle Schwerpunktthema widmet sich ausführlich der Praxis der ART, liefert Zahlen und Fakten zu ihrem Einsatz, beschreibt die technischen Möglichkeiten, diskutiert die sozialpsychologischen und juristischen Dimensionen sowie die Erfolge und Probleme der Kinderwunschbehandlung in der Praxis.
Zur Fortpflanzungsmedizin (auch ART: assistierte Reproduktionstechnologie; »assisted reproductive techniques«) gehören alle Behandlungen und Verfahren, die den Umgang mit menschlichen Eizellen, Spermien oder Embryonen mit dem Ziel umfassen, eine Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes herbeizuführen. Die In-vitro-Fertilisation (IVF) kann als die Schlüsseltechnologie der modernen Reproduktionsmedizin gelten. Indem bei ihrer Durchführung die menschlichen Keimzellen sozusagen auf den Labortisch geholt werden, wird zugleich der Befruchtungsvorgang einer umfassenden Manipulation zugänglich gemacht, denn praktisch alle Verfahren, wie z.B. Präimplantationsdiagnostik (PID), Embryonenauswahl, embryonale Stammzellforschung, Klonen u.a.m. schließen hier in technischer Hinsicht an.
Bis zur Etablierung der IVF waren Behandlungen bei ungewollter Kinderlosigkeit extrem eingeschränkt. Abhilfe gelang erst mit der Substitutionstherapie im Rahmen der technisch assistierten Reproduktion, bei der die Befruchtung und die ersten Schritte der frühembryonalen Entwicklung in vitro, d.h. im Reagenzglas außerhalb des mütterlichen Körpers stattfinden. 1978 kam in England das erste mithilfe einer IVF gezeugte Kind zur Welt, vier Jahre später wurde erstmals in Deutschland ein IVF-Kind geboren, und 1992 gelang (bei männlicher Infertilität) die erfolgreiche Mikroinjizierung einer Samenzelle in eine Eizelle. Waren die ersten »Retortenbabys« noch eine Sensation, so zählen 30 Jahre später künstliche Befruchtungen zur medizinischen Routinebehandlung von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch. Schätzungen zufolge leben weltweit mittlerweile weit über 4 Mio. »ART-Kinder«. In Deutschland sind in den vergangenen zehn Jahren (2000 bis 2009) über 100.000 Kinder nach IVF oder ähnlichen Verfahren zur Welt gekommen. Mittlerweile werden knapp 2 % aller Kinder pro Jahr nach einer reproduktionsmedizinischen Behandlung geboren.
Die Beiträge des Schwerpunkts im aktuellen TAB-Brief fußen auf den Ergebnissen des demnächst erscheinenden TAB-Arbeitsberichts Nr. 139 »Fortpflanzungsmedizin – Rahmenbedingungen, wissenschaftlich-technische Entwicklungen und Folgen«. Der Bericht wurde am 27. Oktober 2010 im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages vorgestellt und vom Ausschuss abgenommen.
Im Beitrag von Bärbel Hüsing werden zunächst die durch die Reproduktionsmedizin bereitgestellten und auf die Herbeiführung einer Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes abzielenden aktuellen Lösungsansätze zum Umgang mit unerfülltem Kinderwunsch vorgestellt. Anknüpfend daran erfolgt eine Analyse und Diskussion der ART-Anwendungen in der klinischen Praxis in Deutschland, in Europa, in den USA sowie in weiteren Ländern. Neben Entwicklungstrends bei der Art und Häufigkeit der Anwendung der Verfahren liegt ein Hauptaugenmerk auf den erzielten Erfolgsraten. Insbesondere wird der Frage nachgegangen, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Risiken durch die reproduktionsmedizinischen Behandlungen für Frauen und für die so gezeugten Kinder bestehen.
Der anschließende Beitrag von Christoph Revermann widmet sich den Aspekten der psychosozialen Begleitung im Rahmen der Kinderwunschbehandlung. Studien zeigen, dass Infertilität zu den stressvollsten Lebenssituationen gehören kann, vergleichbar mit dem Verlust eines Partners oder Kindes. Zugleich ist zu konstatieren, dass die psychischen Ursachen für den unerfüllten Kinderwunsch in der Regel deutlich überschätzt werden, während die Auswirkungen sowohl des unerfüllten Kinderwunsches als auch der reproduktionsmedizinischen Behandlung immer noch häufig unterschätzt werden. In diesem Kontext geht der Beitrag der Frage nach, unter welchen organisatorischen und inhaltlichen Gegebenheiten bzw. auch regulativen Rahmenbedingungen sich eine psychosoziale Begleitung und/oder Therapie für ungewollt kinderlose Paare als sinnvoll und hilfreich erweisen können.
Schließlich widmet sich der zweite Beitrag von Christoph Revermann den politischen bzw. rechtlichen Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Zulässigkeit bzw. Durchführungsmodalitäten der verschiedenen reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten und Verfahren – und zwar in einem länderspezifischen Vergleich. Ein Überblick über die ART-Verfahren im internationalen Vergleich zeigt, dass diese – obwohl im Wesentlichen gleich – nicht in gleicher Weise von der Reproduktionsmedizin eingesetzt bzw. von Kinderwunschpaaren in Anspruch genommen werden können. Es zeigen sich große Unterschiede, inwieweit, mit welchen Zielsetzungen und unter welchen Rahmenbedingungen Verfahren der technisch assistierten Reproduktion überhaupt erlaubt sind und in welchem Maße sie in der medizinischen Praxis eingesetzt werden. Die Bedingungen in Deutschland sind vergleichsweise als eher restriktiv einzuschätzen. Als eine Auswirkung (dieser Verschiedenheit) kommt es sogar zu einem sogenannten Reproduktionstourismus. Allerdings wird auf europäischer Ebene versucht, diese Unterschiedlichkeiten zu harmonisieren. Hier spielen insbesondere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bzw. die europäische Menschenrechtskommission eine wichtige Rolle.
Der TAB-Briefs Nr. 38 ist wie alle früheren Ausgaben (TAB-Briefe) elektronisch verfügbar.