Multimedia - Mythen, Chancen, Herausforderungen
- Projektteam:
Prof. Dr. Herbert Paschen (Projektleitung), Ulrich Riehm, Bernd Wingert
- Themenfeld:
- Themeninitiative:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
- Analyseansatz:
TA-Projekt
- Starttermin:
1994
- Endtermin:
1995
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Untersuchungsgegenstand und Zielsetzung
Nach vorbereitenden Arbeiten im Rahmen des TAB-Monitoring zum Thema Multimedia hatte der Ausschuss für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung im Juli 1994 das TAB mit der Durchführung einer Vorstudie zu einem TA-Projekt „Multimedia“ beauftragt.
Mit Multimedia - dem interaktiven Zugriff auf das integrierte Angebot aus statistischen (z.B.Text) und dynamischen (z.B. Film) Medien - verbinden sich wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch (Stichwort „Informationsgesellschaft“) sehr weitgehende Erwartungen. Das damit einhergehende Potential des gesellschaftlichen Wandels ist sehr groß. Entsprechend wichtig sind flankierende politische Maßnahmen.
Multimedia ist aber weder eine klar umrissene Technologie noch ein gut abgegrenztes Anwendungsfeld. Multimediale Aspekte können an sehr viele informationstechnische und telekommunikative Anwendungen angelagert werden und viele wirtschaftliche und gesellschaftliche Bereiche betreffen. In der Studie kam es deshalb darauf an, Anwendungsbereiche und technologische Konfigurationen abzugrenzen und erste Analysen im jeweiligen Feld durchzuführen. Auf dieser Grundlage sollten Hemmnisse und Potentiale der weiteren Entwicklung herausgearbeitet, Optionen aufgezeigt, Handlungsbedarf identifiziert und Vorschläge für die Hauptstudie gemacht werden.
Ergebnisse
Der Abschlußbericht wurde im Mai 1995 vorgelegt und im Juni 1995 auf der Wissenschaftspressekonferenz vorgestellt. Da der TAB-Arbeitsbericht bereits nach wenigen Wochen vergriffen war, wurde eine leicht überarbeitete und ergänzte Buchpublikation im Bollmann Verlag, Mannheim, erstellt. Da der Deutsche Bundestag Ende 1995 zum Thema „Informationsgesellschaft“ eine Enquete-Kommission eingerichtet hat, wurde die konzipierte Hauptstudie des TAB nicht mehr durchgeführt.
Die Studie geht auf drei große Anwendungsbereiche näher ein, den wirtschaftlichen, den privaten und den öffentlichen Bereich. Zusätzlich werden drei Spezialfragen untersucht, das Lernen mit Multimedia, die Herausbildung einer eigenen Mediensprache und die neuen digitalen Radioformen. Ein einführender Teil behandelt grundlegende Konzepte.
Multimedia in der technischen Dimension: PC, Speichermedien und Netze
Multimedia wird technisch verstanden als die Integration diskreter (z.B. Text) und kontinuierlicher Medien (z.B. Film), die über Computer interaktiv nutzbar sind. In der Diskussion erspart man sich viel Konfusion, wenn drei technische Konfigurationen klar unterschieden werden: a) Personal Computer mit CD-ROM (oder vergleichbaren Speichermedien); b) netzgestützte schmalbandige und c) breitbandige Anwendungen. Eigentlich ist nur der letztgenannte Bereich politisch und gesellschaftlich brisant, weil hier auf verschiedenen Ebenen Diskussions- und Regelungsbedarf besteht.
Der erstgenannte Bereich, PC und CD-ROM, der also von Telekommunikationsnetzen unabhängig ist, entwickelt sich, unterstützt durch Verlage und neue Anbieter, mit großer Dynamik. Dies gilt sowohl für den Unterhaltungssektor als auch für das Lernen, sei es im schulischen, fachlichen oder im Weiterbildungskontext.
Auf der Grundlage des ISDN-Netzes steht eine ausgebaute schmalbandige Netzinfrastruktur zur Verfügung. Auf dieser Basis entwickeln sich sowohl im geschäftlichen als auch im privaten Bereich eine Fülle von Anwendungen. Allerdings spielen auf Grund der beschränkten Übertragungskapazitäten multimediale Elemente keine dominierende Rolle.
Im breitbandigen Bereich gibt es dagegen noch keine allgemein verfügbare und bezahlbare Netzinfrastruktur für interaktive Multimedia-Dienste, wie sie z.B. für „video on demand“ oder Tele-Lernsysteme benötigt würde. Damit ist auch kurzfristig nicht zu rechnen. Ein Grund sind die immensen Investitionskosten. Experten gehen von Gesamtkosten von über 200 Mrd. DM für eine breitbandige, interaktive Multimedia-Infrastruktur aus. Ein anderer Grund liegt darin, dass sich unter den vielen derzeit diskutierten Alternativen bislang keine einzelne als die klar zu präferierende abzeichnet.
Augenblickliche und zukünftige Anwendungsbereiche näher beleuchtet
Im Hauptteil der Studie geht es um geschäftliche Anwendungen von Multimedia, Anwendungen im Privatbereich und solche im öffentlichen Bereich.
Bei den geschäftlichen Anwendungen interessierte, inwieweit die Industrie Multimedia selbst anwendet. Von einem breiten Multimedia-Einsatz oder von einer bevorstehenden Einsatzwelle kann nicht gesprochen werden. In einzelnen Bereichen werden Videokonferenzen oder Bildkommunikation und Tele-Koooperation am Computer durchgeführt. Multimedia ist keineswegs die Lösung für alle Kommunikations- und Interaktionsprobleme. Die Wirtschaft strebt vielmehr in vielen Bereichen hochformalisierte und automatisierbare Verarbeitungsprozesse an. Doch gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Branchen: Banken, Versicherungen, Versandhandel, Werbe- und Verlagswirtschaft und Touristik erscheinen als Bereiche mit guten Bedingungen für Multimedia-Anwendungen. Generell wird im Bereich der Aus- und Weiterbildung verstärkt Multimedia eingesetzt.
Der private Anwendungsbereich steht zwar im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion, aber die tatsächliche Entwicklung rechtfertigt dieses breite Interesse keineswegs. Das Interesse ist aber wegen der hohen technischen Anforderungen sowie der Hoffnungen auf einen lukrativen Massenmarkt verständlich. Das Leitbild ist das „interaktive Fernsehen“, die am häufigsten genannte Anwendung der individuelle Abruf von Filmen, das „video on demand“. In der Studie werden erste Erfahrungen aus den deutschen Pilotversuchen, vor allem aber Erfahrungen aus schon länger laufenden Pilotversuchen in England und den USA geschildert. Dabei zeigt sich, dass die Probleme der Etablierung solcher Dienste in einem geeigneten und ansprechenden Angebot liegen und bei der nutzungsgerechten Aufbereitung und Strukturierung; aber auch rechtliche, technische und wirtschaftliche Fragen spielen eine Rolle.
Mit Multimedia, also als „interaktives“ Fernsehen, kann sich das Fernsehen zum individuellen Kommunikationsmittel umformen. Dann greifen die herkömmlichen rechtlichen Regelungen nicht mehr, die von einer strikten Trennung zwischen Telekommunikation und Rundfunk ausgehen. Ein entsprechender politischer Handlungsbedarf zeichnet sich ab. Viele Experten gehen heute davon aus, dass sich breitbandige, multimediale, interaktive „Heim-Dienste“ keinesfalls vor dem Jahr 2005 etablieren werden.
Für den öffentlichen Bereich azkentuiert die Studie das Verhältnis des Bürgers zum Staat und den Gesichtspunkt der Innovation. Breiten Raum nimmt die Darstellung der „National Information Infrastructure“ in den USA ein, die auf vielfältigen Ebenen versucht, die Bürger und Bürgerinnen sowie die verschiedenen Institutionen in einen umfassenden Reformprozeß einzubeziehen. Für Deutschland zeigt sich, dass sich durch Multimedia eine Reihe von Chancen im öffentlichen Bereich ergeben (z.B. in der Leistungsverwaltung, im Planungsbereich oder bei der politischen Willensbildung). Aber gerade hier ist zu betonen, dass Multimedia nicht die Haupttriebkraft für solche Innovationen sein kann, sondern dass es umfassenderer Reformansätze bedarf. Im öffentlichen Bereich wird zudem deutlich, dass es nicht allein darum gehen kann, eine neue Technik zu etablieren, sondern dass multimediale Anwendungen eine umfassende Organisationsaufgabe darstellen. Dies wird häufig noch unterschätzt.
Lernen mit »Multimedia«?
Die erste der drei Spezialfragen geht auf das Lernen mit Multimedia und insbesondere die „Lernwirksamkeit“ ein. Die Popularität von Multimedia verdankt sich zu einem guten Teil der Plausibilität der These, dass „mehr Medien mehr bringen“. Diese naiv-psychologische These lässt sich auf dem Hintergrund der aktuellen Forschung nicht halten, die klar auf die Bedeutung der inhaltlichen, methodisch-didaktischen und kontextuellen Faktoren verweist. Ob mit Multimedia besser und nachhaltiger gelernt werden kann, hängt von vielen Einzelfaktoren ab. In der Regel ergibt sich aber eine deutliche Zeiteinsparung. Da die Entwicklung multimedialer Lernsysteme aufwendig und teuer ist, rechnen sich entsprechende Anwendungen erst bei hunderten von zu schulenden Teilnehmern und Teilnehmerinnen. Große Unternehmen bzw. Organisationen haben insoweit bessere Einsatzbedingungen. In der beruflichen Aus- und Weiterbildung ist mit einem verstärkten Einsatz von Multimedia zu rechnen.
Eine eigene »Mediensprache«?
Multimedia hat nicht nur mit Akteuren und Märkten zu tun, sondern ist auch eine Frage der Herausbildung einer geeigneten „Mediensprache“ und von Rezeptionsformen. Ohne dass hierzu überzeugende Konzepte entwickelt werden, wird sich Multimedia kaum durchsetzen können. Wie andere Medien - Film, Radio, Fernsehen - ihre eigenen Formen erst langsam herausbilden mussten, stellt sich diese Aufgabe auch den interaktiven, multimedialen Diensten und Angeboten.
DAB: Verschwindet das Radio?
In der Multimedia-Diskussion erscheint das Radio nur am Rande. Unter dem Einfluss von Multimedia könnten sich dieses Medium und diese soziale Institution völlig verändern. Am Beispiel des Radios wie auch des Telefons wird in der Studie gezeigt, wie die allgemeine Digitalisierung der Kommunikationsdienste und Medien die Gefahr mit sich bringt, dass bisher gut abgegrenzte „Alltags-Institutionen“, die Hörfunk und Radio zweifellos sind, in der Fülle alternativer Dienste, Netze und Technologien ihr eigenständiges Profil verlieren könnten.
Mit den neuen digitalen Radioformen sind immer auch Zusatzdienste (Datendienste) verbunden, die im Hörfunk bisher unbekannt waren. Im Vordergrund der Studie steht eine Darstellung des Leistungsspektrums und der Aktivitäten zur Einführung des Digital Audio Braodcasting (DAB), inzwischen eine international digitale Radionorm, die auf eine Eureka-Entwicklung zurückgeht. 1995 sind die ersten Pilotversuche geplant. DAB muss sich aber gegenüber einer ganzen Reihe von konkurrierenden technischen und anwendungsbezogenen Konzepten durchsetzen.
Staat oder Markt?
Die Studie schließt mit einigen grundsätzlichen Überlegungen, die z.B. die Rolle des Staates bei der Etablierung einer neuen Multimedia-Infrastruktur betreffen. Welchem Kommunikationsmodell soll eine solche Infrastruktur folgen? Die grundsätzlichen Alternativen lauten: Zentrales oder eher dezentrales Netzkonzept? Gleichberechtigung aller Teilnehmer oder weitgehende Beibehaltung des Sender-Empfänger-Modells? Bei einem näheren Blick auf aktuelle Entwicklungen erscheint „Multimedia“ aber auch als eine Chiffre für ganz andere Interessen, wie z.B. einen Einstieg neuer Telekommunikationsunternehmen in den Telefonmarkt oder das schlichte Interesse an der Kanalvervielfachung beim Fernsehen.
Weiterführende Fragestellungen
Die Studie gelangt hinsichtlich der Fortführung des Multimedia-Projektes zu der Einschätzung, nicht der Versuchung nachzugeben, der ausufernden Thematik mit einer Vielzahl von Einzelfragen genügen zu wollen. Stattdessen wird die Konzentration auf drei klar abgegrenzte Themenbereiche angeregt: 1: die gewichtige und schwierige Frage einer geeigneten künftigen Multimedia-Infrastruktur; 2. drei speziellere Dimensionen: rechtliche Aspekte; Multimedia und Arbeitsmarkt; Medienrezeption und -didaktik; 3. ein Monitoring der laufenden Pilotversuche zum interaktiven Fernsehen und jener zum digitalen Radio.
Publikationen
Riehm, U.; Wingert, B.
1995. Bollmann-Verlag
Riehm, U.; Wingert, B.
1995. Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB). doi:10.5445/IR/1000103603