bionik, keramikUniBremen

Potenziale und Anwendungsperspektiven der Bionik

  • Projektteam:

    Dagmar Oertel (Projektleitung)

  • Themenfeld:

    Biotechnologie und Gesundheit

  • Themeninitiative:

    Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

  • Analyseansatz:

    TA-Projekt

  • Starttermin:

    2005

  • Endtermin:

    2006

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Die Bionik versucht, mit wissenschaftlichen Mitteln »von der Natur« für technische Problemlösungen zu lernen. Unter Bionik werden Ansätze in Forschung und Entwicklung verstanden, die ein technisches Erkenntnisinteresse verfolgen und auf der Suche nach Problemlösungen, Erfindungen und Innovationen Wissen aus der Beob­achtung und Analyse lebender Systeme heranziehen und dieses Wissen auf technische Systeme übertragen. Der Gedanke des Übertragens von Funktions- oder Strukturwissen von lebenden auf technische Systeme ist zentral für die Bionik.

Die Übertragung des Wissens, das an lebenden Systemen gewonnen wurde, in eine technische Umgebung ist kein trivialer Vorgang, da er die Potenziale der Bionik zunichte machen oder sogar in Risiken transformieren kann. Das Verhältnis der Bionik zur Natur ist deshalb gespalten. Natur hat in der Bionik einerseits Vorbildcharakter, interessiert aber andererseits nicht als Natur selbst, sondern eben  als Vorbild für technische Problemlösungen.

Gegenstand und Ziel der Untersuchung

Die Bearbeitung dieses Themenfeldes wurde – auf Vorschlag des Ausschusses für Bildung, Forschung und Tech­nikfolgenabschätzung – im Frühjahr 2005 begonnen. Ziel der Untersuchung war – in Form einer Vorstudie – eine überblicksartige Zusammenstellung des aktuellen Stands der Forschung und Anwendung im Bereich der Bionik sowie Vertiefungsanalysen anhand ausgewählter Beispiele. Dabei sollten Forschungsstrategien aufgezeigt sowie marktrelevante Aspekte dokumentiert werden.

Im Kern wird der Frage nachgegangen, was den bionischen Zugang zur Lösung technischer Probleme auszeichnet, in welchen Feldern aktuell die bedeutendsten Entwicklungen und Anwendungen erfolgen, welche Chancen und Potenziale in der Bionik liegen, und mit welchen Risiken oder Gefahren zu rechnen ist. Dies sollte im Rahmen einer Vorstudie nur in einer begrenzten Detaillierung erfolgen. Daher wird übergreifenden Fragestellungen – wozu auch begriffliche Probleme gehören – eine entsprechend hohe Aufmerksamkeit gewidmet und werden die sich daraus ergebenden Thesen und Fragen in Form exemplarischer Vertiefungsfelder bearbeitet.

Ergebnisse

Die Bionikszene

Dadurch, dass der bionische Gedanke des Übertragens von Funktions- oder Strukturwissen von leben­den auf technische Systeme prinzipiell in wohl fast allen technischen Bereichen zum Zuge kommen könnte, gibt es keine eigene Systematik der Bionik. Zur klassischen Bionik gehören bionische Anwendungen in den Bereichen Bau und Klimatisierung, Konstruktionen und Geräte, Formgestaltung und Design, Verfahren und Abläufe, Materialien und Strukturen sowie Lokomotion. Ein wichtiges aktuelles Forschungsfeld mit erheblichem Anwendungspotenzial stellen neue Materialien dar. Die neue Bionik schließt an aktuelle Entwicklungen in Nanotechnologie und Evolutionsbiologie an. Sie umfasst einerseits molekularbiologisch inspirierte Mikroansätze der Nanobiotechnologie, der Prothetik und der neuronalen Steuerung, andererseits evolutionstheoretisch motivierte Entwicklungen in der Informationstechnik und in der Organisation kollektiver Prozesse.

Die deutsche Bionikforschung ist thematisch breit aufgestellt und hat eine sehr gute Ausgangsbasis. Die erforschten Segmente der Bionik und die Anwendungsfelder treffen weitgehend auf attraktive Märkte im In- und Ausland. Sowohl etablierte Felder (wie z.B. Neue Materialien, funktionale Oberflächen oder Konstruktion) als auch sich erst entwickelnde Bereiche der Bionikforschung (wie z.B. die Prothetik) sind darauf angelegt, innovative Beiträge zu gesellschaftlich und industriell relevanter Forschung und Entwicklung zu leisten. In der Öffentlichkeit ist das Attribut »bionisch« positiv besetzt und wird gerne für Werbezwecke eingesetzt.

Neben den USA und Großbritannien sind vor allem Frankreich, Schweiz und Österreich stark in der Bionik engagiert. Japan – besonders im Bereich Lokomotion und Robotik – und China (marine Bionik) erweitern ihr Engagement. Die Informationslage ist allerdings teils recht dürftig, besonders in Bezug auf Russland und die USA, da dort viele Bionikprojekte in der Militärforschung angesiedelt sind und entsprechend der Geheimhaltung unterliegen.

Neue Materialien

Biologische Materialien sind ressourceneffizient gestaltet und zeichnen sich durch eine hohe Stabilität und Funktionalität bei verhältnismäßig geringem Material­einsatz aus. Die verwendeten Materialien sind zudem in der Regel in der Umgebung leicht verfügbar (Opportunismusprinzip in der Materialauswahl). In der Natur finden sich keine Hochleistungswerkstoffe, sondern einfache Materialien mit einer effizienten inneren Struktur, die auf die jeweilige biologische Konstruktion perfekt abgestimmt sind und so aus technischer Sicht erstaunliche mechanische Eigenschaften erzielen.

Durch ihre Kombination als Mehrkomponentenmaterialien oder Komposite zeichnen sich viele Materialien durch eine aus technischer Sicht ideale Kombination oft widersprechender Materialeigenschaften, wie z.B. Festigkeit und Elastizität, aus. Multifunktionalität stellt einen wesentlichen Beitrag zur Effizienz biologischer Materialien dar. Diese besitzen eine den Funktionen, die sie erfüllen sollen, angepasste Lebensdauer. Aufgrund der einfachen chemischen Basis sind alle Materialien biologisch abbaubar und damit Bestandteil eines natürlichen Kreislaufs.

Die Zahl werkstoffbasierter Entwicklungen ist so unüberschaubar, dass eine Einordnung, was den Stand der Forschung anbelangt, schwierig ist. Dennoch ist festzuhalten, dass die Bionik bei zukünftigen Materialentwicklungen eine bedeutende Rolle einnehmen kann. Denn Eigenschaften natürlicher Materialien – wie adaptive Fähigkeiten, Multifunktionalität und ressourceneffizienter Aufbau – sind gleichzeitig auch Eigenschaften, die Ziele aktueller Werkstoffentwicklungen darstellen. Voraussetzung ist jedoch ein tieferes Verständnis für das Zusammenwirken von Funktion und Aufbau natürlicher Materialien sowie der Mechanismen bei Entstehung, Umformung und Selbstheilung.

In den Feldern Automobilbau und Bautechnik/Architektur kann Bionik unterschiedlich weitreichende Beiträge zu (zukünftigen) Technologien leisten (z.B. Leichtbaukonstruktion nach bionischem Vorbild, strömungstechnische Optimierung der Fahrzeuge, Entwicklung spezieller Felgen und Reifenprofile, am Kraftfluss orientierte Tragstrukturen, transparente Isoliermaterialien). Dabei garantiert die unmittelbare »Nähe zur Natur« – als Vorbildfunktion und als zumeist erster Verfahrensschritt bionischer Forschung – nicht per se einen nachhaltigen, heute oder zukünftig praxisrelevanten Einsatz. Ein sich abzeichnendes Charakteristikum umgesetzter bionischer Lösungen ist, dass sie eine hohe Anzahl neuer Entwicklungs- und Produktideen nach sich ziehen – nicht notwendigerweise ausschließlich bionischer Art. Dies zeigt das Beispiel selbstreinigender, superhydrophober (besonders wasserabweisender) Oberflächen und Materialien.

Neue Bionik

Nanobionik und/oder Nanobiomimetik bezeichnen Forschungsaktivitäten, die Lösungsansätze der Natur (bzw. der Zelle) für menschliche Bedarfe und Herstellungsprozesse nutzbar zu machen. Diese Forschungsrichtungen sind molekularbiologisch orientiert und profitieren von Fortschritten in der Nanotechnologie. Entsprechende Entwicklungen befinden sich noch mitten im Stadium der Grundlagenforschung, auch wenn es um so konkrete Ziele geht, wie den technischen Nachbau der Photosynthese. Waren die bisher verfolgten bionischen Ansätze geprägt durch die Übertragung von Lösungsansätzen der Natur auf technische Systeme, so stehen im Rahmen der Nanobionik zugleich Eingriffe in die Natur auf dem Programm, die bis hin zum Bau künstlicher Zellen und damit letztlich zur Erzeugung künstlichen Lebens in der Synthetischen Biologie reichen. Die Analogie der bisherigen Bionik zur Nanobionik erweist sich spätestens dann als problematisch, wenn in die evolutiven Prozesse selbst eingegriffen wird, wenn also »der Mensch die Evolution selbst in die Hand nimmt«. Mit der dadurch einkehrenden Verkürzung der natürlichen Zeiträume, in denen sich evolutive Prozesse vollziehen, könnten neue Risikotypen erzeugt werden. Bei aller Faszination der Nanobionik sollte daher eine sorgfältige Begleitung durch Risikoforschung und Technikfolgenabschätzung erfolgen.

Die Fortschritte in der Prothetik tragen zu einer Entwicklung bei, die von der morphologischen Analogiebildung (beispielsweise Hörrohr) über eine völlige Abstraktion und Abkehr vom Vorbild wieder zu einer kontinuierlichen Annäherung an die natürlichen Prozesse gelangt – ganz im Sinne des »Nachbaus« der zugrundeliegenden komplexen sensorischen und informationsverarbeitenden Mechanismen. Es geht damit zunehmend um die mehr oder weniger exakte funktionale Nachbildung der Natur. Die Neurobionik (z.B. Neuroprothetik, Biohybridelemente) wird von vielen Bionikern als bionisches Forschungsfeld akzeptiert, solange es um das Lernen von der Natur mit Blick auf evolutionäre Erkenntnisse geht. Andere grenzen sich jedoch von der Neurobionik für prothetische Anwendungen ab, da diese mehr auf den »Ersatz von Sinnen« ausgerichtet ist. Durch die enormen Fortschritte im Verständnis biologischer Elemente sowie den technischen Fortschritt im Bereich Miniaturisierung und Materia­lien ist zu erwarten, dass die Neurobionik dennoch in den kommenden Jahren eine klarere Rolle in der bionischen Forschung beanspruchen wird als bisher.

Die Nutzung evolutionärer Strategien ist ein weiteres aktuelles Forschungsfeld der Bionik. In der Informations- und Kommunikationstechnik operiert das sogenannte Natural Computing mit den Prinzipien von Variation und Selektion, um unter bestimmten Bedingungen »optimale« Strategien durch Probieren herauszufinden. In Fragen der Organisation komplexen Verhaltens, sei es des Verhaltens eines Kollektivs oder des Verhaltens Einzelner angesichts kombinatorischer Optimierungsaufgaben, werden seit einiger Zeit Phänomene der »Schwarmintelligenz« untersucht. Es geht dabei darum, das komplexe Verhalten z.B. von Ameisenvölkern oder Vogelschwärmen auf der Basis sehr einfacher Regeln auf der individuellen Ebene zu modellieren und hieraus Lösungsideen für Probleme sozialer Organisation zu gewinnen.

Grundsätzlich ist in diesen, technisch und wissenschaftlich sämtlich faszinierenden Feldern der »neuen Bionik« zu beachten, dass zwar erhebliche Potenziale für neuartige technische Möglichkeiten erkennbar sind, dass sich jedoch die Entwicklungen zum großen Teil noch in frühen Stadien befinden. Bionik zielt hier zwar letztlich auf technische Problemlösungen, ist jedoch in der Regel noch weit von der Marktreife entfernt. Das häufig verwendete evolutionäre Prinzip der Selbstorganisation weist zudem eine eigene Ambivalenz auf und könnte zu Risiken führen, die Folgen einer zunehmenden Autonomie darauf aufbauender Technik und eines möglichen Kontrollverlusts des Menschen sind.

Schlussfolgerungen und Handlungsoptionen

Bionik führt zu einer erheblichen Ausweitung der »Toolbox« im Innovationssystem, indem aus der Vielfalt der  Problemlösungen in der Natur für technische Problemlösungen in der Welt des Menschen gelernt wird. Bereits diese beträchtliche Erweiterung menschlicher Handlungsmöglichkeiten rechtfertigt eigene Anstrengungen, um das bionische Potenzial möglichst gezielt zu erschließen. Bionik »als Versprechen« einer naturgemäßeren Technik trägt sicher zur Motivation vieler Forscher bei, ist jedoch für eine Begründung, warum Bionik betrieben und öffentlich gefördert werden sollte, gar nicht erforderlich. Hier reicht das Argument der Erschließung eines großen Ideenpools für menschliche Zwecke vollständig aus.

Für eine differenzierte Sicht der Bionik und der in diesem Bereich praktizierten Arbeitsweise ist es unabdingbar, den gesamten Innovationsprozess von den biologischen Grundlagen (Idee) bis hin zur technischen Umsetzung (Produkt) zu betrachten – auch um das Potenzial der Bionik realistisch darstellen zu können. Um Bionik als »Ideenpool« für Innovationen zu etablieren, ist eine grundlegende Voraussetzung das Entwickeln von Strategien zum effizienten Herausfiltern der für technische Problemlösungen relevanten Aspekte. Aufgrund der ungeheuren Vielfalt der »natürlichen Problemlösungen« wäre etwa eine weitere Systematisierung und Verfügbarmachung von Funktionsprinzipien aus der Biologie sinnvoll. Ein weiterer Punkt ist die Fokussierung der forschungsorientierten Förderung auf ausgewählte Aspekte (z.B. Wissensverwertung, Schutzrechtsstrategien, Aufbau neuer Förderschwerpunkte). Eine funktionierende interdisziplinäre Arbeitsweise ist dabei ein zentraler Baustein bionischer Entwicklungen. Auch hier bestehen Verbesserungsmöglichkeiten in der Kommunikation zwischen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen. Die momentan in Deutschland bestehende Netzwerkbildung sollte – auch mit Blick auf interdisziplinäre Aspekte und die europäische Ebene – weitergeführt werden.

Das Anwendungspotenzial der Bionik ist enorm breit. Ein entsprechendes Marktpotenzial ist vorhanden, wobei für ein detailliertes Bild allerdings entsprechende Marktuntersuchungen notwendig wären. Für den Transfer bzw. die Nutzbarmachung bionischer Entwicklungen für Umsetzungen im Handwerk bzw. im Mittel­stand fehlen regionale bzw. auch überregionale Unterstützungsstrategien. Die positive Besetzung des Begriffs »Bionik« in der breiten Öffentlichkeit wäre ausbaubar, auch vor dem Hintergrund der Vermittlung eines noch klareren Bildes, was Bionik genau ausmacht. Ein breit geteiltes Verständnis hiervon wäre u.a. auch eine Grundlage für eine bessere Verankerung bionischer Aspekte in Lehre und Ausbildung.

Für eine Weiterführung der Bearbeitung des Themas böten sich folgende Vertiefungsfelder an:

  • Ökobilanzielle Untersuchungen im Rahmen von Gesamtbetrachtungen bionischer Produktanwendungen
  • Konkretion bisher getroffener Aussagen zu »Chancen und Risiken« der Bionik insgesamt
  • Vertiefte Forschung im Bereich der »neuen Bionik« hinsichtlich der These »Bionik als Versprechen« (Kontextüberprüfung, Kriterien, Bewertung etc.), Realisierbarkeit der mit Bionik implizit verbundenen Vorstellungen (Robustheit, Fehlertoleranz, Adaptivität etc.), Eingriffstiefe und Wirkmächtigkeit der »neuen Bionik« auf molekularer Ebene und damit zusammenhängender Risiken sowie Detailuntersuchungen für einzelne Bereiche (z.B. Nanobionik, Prothetik)
  • Durchführung einer differenzierten internationalen Vergleichsanalyse (Benchmark)
  • Untersuchung des potenziellen Beitrags der Bionik zu aktuellen ökologischen Problemen (z.B. im Bereich »Bauen und Wohnen«)

Deutschland gehört ohne Zweifel zu den bedeutenden Forschungsstandorten in der Bionik weltweit. Das wissenschaftlich hohe Niveau der deutschen Forschung gilt es, auch in Zukunft zu halten. Die internationale Reputation muss weiter gestärkt werden, und bionische Herangehensweisen sind nachhaltig und zeitnah in die Innovationsprozesse der Industrie zu integrieren. Es wird für die Zukunft darauf ankommen, das Wissen aus der bereits geleisteten Forschungsarbeit an die nächste Bionikgeneration weiterzugeben und vor allem durch Bildung und Ausbildung einen Multiplikatorenprozess anzustoßen.

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