Resilienz lernen!
Pauline Riousset, Saskia Steiger, Claudio Caviezel | 8. Juli 2022
Die COVID-19-Pandemie hat die Vulnerabilitäten unserer Gesellschaft schmerzlich ins allgemeine Bewusstsein gerückt und der Krieg in der Ukraine lässt auch in Deutschland längst überwunden geglaubte Sorgen über ernsthafte Versorgungsengpässe mit Energie oder Nahrungsmitteln sowie einen Cyberkrieg wieder aufleben. Vor diesem Hintergrund befassen sich in Deutschland und vielen weiteren europäischen Ländern die Parlamente verstärkt mit den Vulnerabilitäten und Schwachstellen ihrer Gesellschaften und entwickeln Resilienzstrategien für ihre kritischen Infrastrukturen. Dafür müssen Lehren aus vergangenen Krisensituationen gezogen sowie Frühwarnsysteme und Vorsorgemaßnahmen weiterentwickelt werden.
Kritische Infrastrukturen, die für das staatliche Gemeinwesen, die Versorgungssicherheit und die öffentliche Sicherheit essenziell sind, bilden das Rückgrat unserer Gesellschaften. Pandemien, Kriege, aber auch technisches oder menschliches Versagen, Naturkatastrophen, wie Starkregenereignisse oder Erdbeben, sowie kriminelle oder terroristische Aktivitäten können die Funktionsfähigkeit der Infrastrukturen massiv beeinträchtigen oder gar zu deren Ausfall führen. Als Folge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine erweist sich mittlerweile die Versorgungslage mit Gas als angespannt und die Bedrohungslage im Cyberraum wird als angespannt bis kritisch bewertet. In den letzten Jahren und Monaten haben die Cyberangriffe auf Behörden und kritische Infrastrukturen zugenommen, sodass die Auswirkungen bereits deutlich spürbar sind. So drangen im Juli 2021 Kriminelle in die behördliche IT-Infrastruktur des Landkreises Anhalt-Bitterfeld ein und legten durch Datenverschlüsselung die Arbeit der Verwaltung lahm, woraufhin in Deutschland erstmals ein Cyberkatastrophenfall ausgerufen wurde. Die Verwaltungsabläufe wurden massiv gestört, was u.a. zu Unterbrechungen in der Auszahlung von Sozial- und Unterhaltsleistungen oder bei der Kfz-Zulassung führte. Einige Monate zuvor waren drei französische Krankenhäuser kurz nacheinander Ziel von Hackerangriffen. Diese Angriffe führten zu Verzögerungen in der Bereitstellung von Laborergebnissen, zur Sperrung von Gesundheitsakten sowie zum Ausfall wichtiger Assistenztechnik für die Behandlung von Krebspatient/innen.
In der Folge machen sich viele Parlamente in Europa zunehmend Sorgen um die Resilienz ihrer Kritischen Infrastrukturen und die gesellschaftliche Stabilität. In Frankreich untersuchte eine parlamentarische Kommission Anfang 2022 Bedrohungen und Vulnerabilitäten für das Land sowie Wege zur Stärkung der nationalen Resilienz (»Résilience nationale«). Auch das britische Parlament legte 2021 eine Studie vor, in der Ansätze zu einer besseren Vorbereitung auf extreme Ereignisse empfohlen wurden (»Preparing for Extreme Risks: Building a Resilient Society«). Als zentrale Risiken wurden in beiden Studien u.a. der Klimawandel sowie die zunehmende Vernetzung und gegenseitige Abhängigkeit von Systemen identifiziert. Für das österreichische Parlament untersucht das Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ITA) in aktuellen Projekten, was bei einem Ausfall des Internets (»ISIDOR – Was geht ohne Internet?«) geschehen würde und welche Herausforderungen sich durch Vulnerabilitäten der kritischen Infrastrukturen (»Digitalisierung, Vulnerabilität und (kritische) gesellschaftliche Infrastrukturen«) in Österreich ergeben. Zudem befasste sich das ITA im kürzlich abgeschlossenen Projekt »Sichere Stromversorgung und Blackout-Vorsorge in Österreich« mit Blackoutszenarien, Risiken und möglichen Schutzmaßnahmen. Analysen zu voraussichtlichen Auswirkungen von Störungen oder Ausfällen kritischer Infrastrukturen sind seit Langem Gegenstand auch von Untersuchungen, die vom Deutschen Bundestag initiiert wurden. Bereits 2010 veröffentlichte das TAB eine TA-Studie zur »Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen Ausfalls der Stromversorgung«.
Um Disruptionen, als einschneidende, sich schnell vollziehende Veränderungen mit (oft) zerstörerischem Charakter, vorzubeugen, sind effektive Frühwarnsysteme zu entwickeln sowie Vulnerabilitätsanalysen durchzuführen. Dafür ist es notwendig, die antizipatorischen Kompetenzen auszubauen. Zu diesem Schluss gelangen nicht nur die französische und britische parlamentarische Kommissionen, auch das TAB greift diesen zentralen Aspekt in aktuellen TA-Projekten auf. Im Projekt »Krisenradar – Resilienz von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft durch Krisenvorhersage stärken« wird untersucht, wie Frühwarnsysteme gestaltet und institutionell (national wie international) verankert werden können, um ein kontinuierliches und frühzeitiges Krisen- und Risikomanagement zu ermöglichen. Kurz vor der Fertigstellung steht außerdem der TAB-Arbeitsbericht »Chancen und Risiken der Digitalisierung kritischer Infrastrukturen am Beispiel der Abfall- und Wasserwirtschaft«. In diesem werden die Chancen eines Einsatzes digitaler Innovationen für die Erbringung kritischer Dienstleistungen aufgezeigt und die Herausforderungen beleuchtet, die mit einer zunehmenden Abhängigkeit der Infrastrukturen von Informations- und Kommunikationstechnik sowie von der Stromversorgung einhergehen können. Frühwarnsystemen kommt gerade hier eine hohe Relevanz zu, um eine systemische sowie gesellschaftliche Resilienz zu fördern und dauerhaft zu gewährleisten.
Mit der Durchführung von Risikoanalysen und der Implementierung von Frühwarnsystemen müssen auch die Erstellung von Notfallplänen, der Aufbau von Ressourcen sowie die Erarbeitung von Vorsorge- und Anpassungsstrategien einhergehen. Dies unterstreichen sowohl die britische als auch die französische Kommission. Letztere weist auch auf die Notwendigkeit globaler strategischer Risikoanalysen für sämtliche kritische Sektoren hin. Auf EU-Ebene soll diese Forderung in absehbarer Zeit durch eine neue Richtlinie zur Stärkung der Resilienz kritischer Infrastrukturen umgesetzt werden, die sich derzeit im Gesetzgebungsprozess befindet. Durch die Richtlinie würden EU-weite Mindeststandards für den Schutz der kritischen Infrastrukturen geschaffen. Die Resilienz der Infrastrukturen lässt sich aber nicht nur durch gesetzliche Vorgaben erhöhen, genauso wichtig ist auch der europäische Austausch über gemachte Erfahrungen und Best Practices. Hier gilt Finnlands Ansatz als vorbildhaft, der sich durch ein kooperatives Modell zwischen staatlichen und privaten Akteuren auszeichnet. Notfallpläne werden gemeinsam erarbeitet und Übungen regelmäßig durchgeführt.
Gelegenheit, die finnländische Herangehensweise hinsichtlich einer vorausschauenden Vorsorgeplanung näher kennenzulernen, besteht im Rahmen der diesjährigen EPTA-Konferenz, die unter dem Titel »Disruption in Society. TA to the rescue?« am 17. Oktober im Deutschen Bundestag stattfindet. Dazu wird Frau Katri Liekkilä, zuständig für Internationale Beziehungen bei der National Emergency Supply Agency (NESA), spannende Einblicke gewähren. Auch Experten aus Schweden, Österreich und Frankreich werden das Thema aus ihrer Perspektive beleuchten und Beiträge zu den Chancen, Risiken und zu möglichen Strategien für die Krisenvorsorge und das Krisenmanagement liefern.