Spitze und Kiel eines Eisbergs in der Mitte des Ozeansalonesdj/123rf.com

Umgang mit Nichtwissen bei explorativen Experimenten

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Gegenstand und Ziel der Untersuchung

Wissen hat für moderne Gesellschaften eine herausragende Bedeutung– vor allem wissenschaftliches Wissen wird als unabdingbar angesehen, um den großen Herausforderungen unserer Zeit begegnen zu können. Gleichzeitig sind die Grenzen des Wissens bzw. das Nichtwissen und der angemessene Umgang damit eine wichtige Triebfeder wissenschaftlichen Denkens und Handelns.

Laborexperimente sind ein zentrales Instrument der Wissenschaft, um Hypothesen zu überprüfen und Wissen zu generieren. Insbesondere bei der Erforschung der Wechselwirkungen von Innovationen mit Umwelt und Gesellschaft stoßen Laborexperimente an Grenzen, und der Schritt vom Labor zu explorativen Experimenten wird notwendig. Solche Realexperimente werden insbesondere durchgeführt, um neue Technologien in einer natürlichen Umgebung bzw. an ihren zukünftigen Einsatzorten zu erproben und weiterzuentwickeln. Dabei soll neues Wissen geschaffen bzw. Nichtwissen in Wissen überführt werden. Bestehendes Nichtwissen ist also die Motivation, ein exploratives Experiment durchzuführen.

Gleichzeitig erhält unsicheres Wissen bzw. Nichtwissen beim Schritt in die Welt (der explorativen Experimente) eine viel größere Tragweite, da negative Effekte weitaus schwieriger zu kontrollieren sind als im Labor. Dies wirft die Frage nach einem guten gesellschaftlichen Umgang mit Nichtwissen und den damit verbundenen Unsicherheiten über die möglichen Folgen von Realexperimenten auf, die in diesem Hintergrundpapier behandelt wird.

Das Hintergrundpapier geht auf Anregung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung der Frage nach, wie mit diesem Dilemma umgegangen werden kann – mit dem Dilemma, einerseits auf wissenschaftliche Experimente angewiesen zu sein, um Wissen zu generieren, Wissenslücken zu schließen und Wandel und Innovation voranzubringen, und andererseits beim Experimentieren unweigerlich mit Nichtwissen über mögliche unerwünschte Folgewirkungen auf Natur und Gesellschaft konfrontiert zu sein

Inhalte und Aufbau des Hintergrundpapiers

Für den Umgang mit diesem Spannungsfeld werden zwei Heuristiken – die Methode der Technikcharakterisierung und die Perspektive des rekursiven Lernens in Realexperimenten – vorgestellt und am Beispiel der drei Forschungsfelder Grüne Gentechnik, Fracking und Meeresdüngung mit Eisen illustriert. Die beiden untersuchten Ansätze unterscheiden sich deutlich darin, wie Aspekte des Nichtwissens analysiert und eingeschätzt werden und wie dadurch in der Gesellschaft besser und verantwortungsvoller mit den Herausforderungen umgegangen werden kann, die sich aus Forschung, Entwicklung und Innovation ergeben können.

Die Methode der Technikcharakterisierung orientiert sich am Risiko- und Gefahrenmanagement. Sie verknüpft eine ingenieur- und naturwissenschaftliche Perspektive mit dem Vorsorgeprinzip und konzentriert sich auf die Antizipation möglicher Gefährdungen, sogenannter Gründe zur Besorgnis. Die Perspektive des rekursiven Lernens in Realexperimenten folgt stärker einer sozialwissenschaftlichen Sichtweise des gesellschaftlichen Lernens. Sie geht davon aus, dass antizipierende Risikoforschung nicht in der Lage ist, alle relevanten möglichen Effekte explorativer Experimente vorherzusehen und setzt dementsprechend auf begleitendes Beobachten im Sinne eines institutionalisierten und möglichst frühzeitigen Lernens im Kontext der Wissensanwendung. Die Ansätze unterscheiden sich in ihrem Fokus und sind tendenziell komplementär, d. h., sie ergänzen sich und können kombiniert werden.

Dem Hintergrundpapier vorangestellt ist eine kompakte Zusammenfassung. In Kapitel 2 werden zentrale Begriffe und Grundlagen eingeführt und verschiedene Ausprägungen wissenschaftlicher Experimente erörtert. In Kapitel 3 werden grundsätzliche Reaktionsformen auf wissenschaftliches Nichtwissen behandelt, bevor in Kapitel 4 die beiden Ansätze zum Umgang mit Nichtwissen bei explorativen Experimenten vorgestellt werden, die Technikcharakterisierung und die Perspektive des rekursiven Lernens in Realexperimenten. In Kapitel 5 wird ein kurzer, allgemeiner Blick auf verschiedene Formen gesellschaftlicher Partizipation geworfen. Die Kapitel 6 bis 8 befassen sich dann mit dem konkreten Umgang mit Nichtwissen bei explorativen Experimenten in den drei Forschungsfeldern Grüne Gentechnik (Kap. 6), Fracking (Kap. 7) und Meeresdüngung (Kap. 8). In Kapitel 9 werden zusammenfassend die folgenden Aspekte einer guten Governance bei explorativen Experimenten beschrieben.

Aspekte guter Governance bei explorativen Experimenten

Der Gegenstand Nichtwissen bleibt naturgemäß nur eingeschränkt spezifizierbar und ist bei kontroversen Themen, wie z.B. großtechnologischen explorativen Experimenten, immer auch Gegenstand politischer Auseinandersetzung. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Nichtwissen in politischen Auseinandersetzungen häufig instrumentalisiert wird. Fragen der Bewertung von Nichtwissen in Bezug auf ein konkretes experimentelles Vorhaben sind daher im Kern politische Fragen, und Entscheidungen darüber, ob und unter welchen Umständen ein großskaliges exploratives Experiment durchgeführt wird, sind ihrem Wesen nach politische Entscheidungen.

Elemente des Umgangs mit explorativen Experimenten

Im Vorfeld eines Experiments muss neben grundsätzlicher Genehmigung (falls erforderlich) und Finanzierung über Design und Ausgestaltung in fachlicher Hinsicht und in der weiteren Prozessbegleitung entschieden werden. Dabei sind unter anderem folgende Punkte zu berücksichtigen:

  • Einbezug aller verfügbaren Risikoinformationen, ggf. weitere Vorstudien;
  • Ergänzung einer Analyse des Eingriffs durch eine strukturelle und eine ereignisbezogene Vulnerabilitätsanalyse (im Sinne der Technikcharakterisierung);
  • bei Experimenten mit hohem Anlass zur Besorgnis: gestuftes Vorgehen mit Upscaling der Versuchsstadien in Hinsichtl auf Raum und Zeit;
  • Berücksichtigung des potenziellen gesellschaftlichen Nutzens im Rahmen einer vergleichenden Risikoabschätzung;
  • Einplanung einer angemessenen gesellschaftlichen Partizipation.

Im Verlauf des Experimentierens treten weitere Aspekte hinzu, die antizipiert werden sollten, um ggf. einen Abbruch, ein Nachsteuern oder schadensbegrenzende Maßnahmen zu indizieren. Dies kann mittels folgender struktureller Maßnahmen geschehen:

  • Etablierung einer prozessbegleitenden, kontinuierlichen oder rekursiven Form der Begleitung und (Nach-)Steuerung, um auf neue Erkenntnislagen zu reagieren; wenn möglich vorab Definition von Abbruchkriterien;
  • angemessene Ausgestaltung der Monitoringmaßnahmen sowohl hinsichtlich der zielgerichteten Beobachung spezieller Parameter als auch eines Breitbandscreening möglicher Überraschungen; Festlegung einer Mindestbeobachtungsdauer;
  • ausgewogene Besetzung der begleitenden Steuerungsgremien; Ermöglichung und Berücksichtigung uneingeladener Partizipationsformen;
  • Gewährleistung eines hohen Grades an Transparenz der gewonnenen Daten, Ergebnisse, Entscheidungskriterien und getroffenen Entscheidungen.

Kombination aus Ex-ante-Analyse und prozessbegleitendem Steuern

Ein guter Umgang mit Nichtwissen bei explorativen Experimenten muss versuchen, zwei eigentlich unvereinbare Ziele miteinander in Einklang zu bringen: Nichtwissen einschließlich der »unknown unknowns« möglichst systematisch und abgeleitet in seinem Ausmaß auszuloten bzw. ex ante zu charakterisieren und darauf aufbauend ggf. Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen, die von einem abgewandelten Design des Experiments bis hin zu einem Moratorium reichen können. Gleichzeitig aber sollen mit der Durchführung des Experiments Raum und Aufgeschlossenheit für neues Wissen und das Auftreten von Überraschungen geschaffen werden, sonst wäre das Experiment als solches nicht sinnvoll.

Die beiden im Hintergrundpapier vorgestellten Ansätze der Technikcharakterisierung und des rekursiven Lernens in Realexperimenten sind als Heuristiken zu betrachten, die aufeinanderfolgend eingesetzt werden und helfen können, zu guten Ergebnissen, d. h. Urteilen im zuvor genannten Sinne, zu gelangen.

Sie stehen für zwei komplementäre Herangehensweisen an das Problem des Umgangs mit Nichtwissen. Es ist sinnvoll, Risikowissen und Anhaltspunkte für Gründe zur Besorgnis bereits im Vorfeld möglichst umfassend zu sammeln – dies ist u.a. die Herangehensweise der Technikcharakterisierung – und nach einer (vorläufigen) Genehmigung zusätzlich einen kontinuierlichen Prozess des Monitoring und der Steuerung zu etablieren, um auf neu auftretende Erkenntnisse, neue Bewertungen und auch neu auftretendes Unwissen (allgemein gesagt: auf Überraschungen) reagieren zu können – dies ist die Perspektive des rekursiven Lernens in Realexperimenten.

Monitoring und Zusammenführung von Daten und Wissen

Eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass bei und nach der Durchführung des Experiments neu auftretendes Nichtwissen und Überraschungen bemerkt und registriert werden, ist ein breit angelegtes und gegebenenfalls lang andauerndes Monitoring. Hierbei muss ein Ausgleich gefunden werden zwischen der Engführung der Beobachtung durch hypothesengeleitete Beobachtung einerseits und der Aufmerksamkeit für Überraschungen im Sinne eines breiten Monitorings andererseits. Neben der Vielfalt der beobachteten Paramter ist die Zeitdauer der Beobachtung entscheidend. Überraschungen können zeitlich (stark) verzögert eintreten. Auch hier ist eine schwierige Abwägung zwischen Aufwand bzw. Kosten und einer möglichst langen Beobachtungsdauer zu treffen.

Da nicht erwartet werden kann, durch wissenschaftliche Beobachtungsprogramme allein Überraschungen systematisch oder vollständig erfassen zu können, sind Offenheit und Aufmerksamkeit für Beobachtungen von unterschiedlichen, auch nichtwissenschaftlichen Akteuren wichtig. Eine solche Haltung kann zum Beispiel dadurch umgesetzt werden, dass eine Stelle eingerichtet wird, bei der entsprechende Beobachtungen gesammelt und systematisiert werden (wie zum Beispiel das Pharmakovigilanzsystem in der Medizin).

Vergleichende Einschätzung von Risiken und Nutzen

Welches Maß an Risiken eine Gesellschaft zu tragen bereit ist, ist eine Frage, die immer wieder neu politisch und gesellschaftlich verhandelt wird. Dabei muss auch der erwartete Nutzen für die Gesellschaft in die Betrachtung mit einbezogen werden. Voraussetzung für eine fundierte Bewertung und Entscheidungs­findung sind wissenschaftlich nachvollziehbare Informationen über die aus guten Gründen erwartbaren Risiken und Nutzen.

Gesellschaftliche Partizipation

Großmaßstäbliche explorative Experimente finden im gesellschaftlichen Raum statt. Entscheidend für die sinnvolle Ausgestaltung der Partizipation sind Fragen nach der Betroffenheit: Wer äußert sich, wer sollte legitimer Weise gehört werden, mitentscheiden etc.? Auch wenn es naheliegt, die Frage nach der Betroffenheit möglichst objektiv von der Reichweite der direkten (physischen) Folgen eines Experiments her zu beantworten, ist eine solche Vorgehensweise nicht hinreichend, weil die physischen, naturräumlichen Folgen aufgrund des Nichtwissens nur teilweise vorhersagbar sind und die ökonomischen und sozialen Folgen einer neuen Technologie in einer komplexen, vernetzten Welt darüber hinaus entgrenzt sind. Die Frage der »Betroffenheit« ist somit eine gesellschaftlich-politische Frage. Es liegt daher nahe, beim Design von Prozessen der Partizipation darauf zu achten, dass Bürgerinnen und Bürger mit entscheiden können, ob sie sich als Betroffene fühlen, ähnlich wie im Fall der uneingeladenen Partizipation.

Uneingeladene Partizipation stellt einen wichtigen Baustein bei der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in demokratisch verfassten Staaten dar. Sie ist Ausdruck von wahrgenommener Bürgerverantwortung und kann dazu beitragen, Aspekte in die Diskussion einzubringen, die sonst nicht oder nur randständig betrachtet würden. Uneingeladene Partizipation kann daher grundsätzlich als ein gesellschaftlich positives Element einer lebendigen Demokratie angesehen und fruchtbar gemacht werden, z. B. durch das Transparentmachen der eingebrachten Positionen, Einschätzungen und Wissensbestände, und sollte nicht durch Geheimhaltung etc. behindert werden.

Publikation


Weitere Literatur zum Thema (Auswahl)


2015
Nichtwissenskulturen und Nichtwissensdiskurse : Über den Umgang mit Nichtwissen in Wissenschaft und Öffentlichkeit
Wehling, P.; Böschen, S.
2015. Baden-Baden : Nomos, 2015 (Wissenschafts- und Technikforschung ; 15) 
2014
Diskursrisiken der Kommunikation von Nichtwissen. Der Fall “Nanotechnologie”
Lösch, A.
2014. Technikfolgenabschätzung, Theorie und Praxis, 23 (2), 33–40 
Vorsorge, Nichtwissen und Evidenzpolitik
Böschen, S.
2014. Gen-ethischer Informationsdienst, (223), 17–20 
2012
Neue Wissensarten: Risiko und Nichtwissen
Böschen, S.; Wehling, P.
2012. Maasen, S. [Hrsg.] Handbuch Wissenschaftssoziologie Wiesbaden : Springer VS, 2012, 317–327 
Nichtwissen und Wissensregime. Neue Konfliktlagen und Probleme von Wissenskommunikation
Böschen, S.
2012. Janich, N. [Hrsg.] Nichtwissenskommunikation in den Wissenschaften : Interdisziplinäre Zugänge Frankfurt am Main [u.a.] : Peter Lang, 2012 (Wissen - Kompetenz - Text ; 1), 235–267 
Risiko als Medium zur Kommunikation von Nichtwissen. Eine soziologische Fallstudie zur Selbstregulierung der Nanotechnologie
Lösch, A.
2012. Janich, N. [Hrsg.] Nichtwissenkommunikation in den Wissenschaften : interdisziplinär Zugänge Frankfurt a.M. [u.a.] : Peter Lang, 2012 (Wissen - Kompetenz - Text ; 1), 171–207 
2000
Risikokommunikation und die Risiken der Kommunikation wissenschaftlichen Wissens. Zum gesellschaftlichen Umgang mit Nichtwissen
Bechmann, G.; Stehr, N.
2000. GAIA - Ökologische Perspektiven für Wissenschaft und Gesellschaft, 9, 113–21