Technikfolgenabschätzung in Zeiten multipler Krisen – wichtiger als jemals zuvor. Ein Konferenzbericht
Alma Kolleck | 25. Oktober 2022
Die EPTA-Konferenz, die am 17. Oktober 2022 im Deutschen Bundestag stattfand, stand unter dem Titel "Disruption in society – TA to the rescue?". EPTA (European Parliamentary Technology Assessment) steht für das europäische Netzwerk von 27 Einrichtungen der parlamentarischen Technikfolgen-Abschätzung, das mit Ländern wie den USA, Korea, Japan, Chile und Argentinien auch Mitglieder außerhalb Europas umfasst. Mehr als 150 Abgeordnete und Wissenschaftler/innen aus Deutschland und 16 weiteren Ländern nahmen teil. Eröffnet wurde sie durch Kai Gehring, den Vorsitzenden des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages, mit der Feststellung, dass Technikfolgenabschätzung (TA) wichtiger als jemals zuvor sei. Die COVID-Pandemie, die Klimakrise sowie die Energiesouveränitätskrise führten dies vor Augen. Der Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), Prof. Dr. Armin Grunwald, hob in seiner Begrüßung hervor, wie stark sich das Verständnis des Disruptionsbegriffs verändert habe. So habe noch vor wenigen Jahren bei Disruptionen vor allem das innovative Moment im Fokus gestanden, etwa bei disruptiven Technologien. Dagegen überwiege in der heutigen Wahrnehmung vor allem die negative Seite von Disruptionen, etwa bei Überflutungen und Dürren. Verändert habe sich auch der Blick auf die Zukunft: So gelte die allgemeine Annahme, dass die Welt von morgen im Großen und Ganzen wie die heutige bleibe, nur vielleicht ein bisschen besser, als überholt. Die Idee von Zukunft sei nunmehr wesentlich mit Bedrohungen verknüpft. Vor diesem Hintergrund könne TA im besten Fall Parlamente dabei unterstützen, die Gesellschaft und die Zukunft für ein gutes, lebenswertes Anthropozän zu formen.
In seiner Keynote gab der Bestseller-Autor Marc Elsberg eine Kostprobe seines Schaffens und entführte die Zuhörer/innen in die Handlung seines Romans "Blackout – Morgen ist es zu spät", in dem die Romanfiguren einen beinahe europaweiten Stromausfall er- und durchleben. Dabei führte der Autor die gesellschaftlichen Folgen eines zweiwöchigen Blackouts chronologisch vor Augen und zeichnete das Bild sich gegenseitig beeinflussender Zusammenbrüche verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme. Elsberg nahm auf ein Zitat von Winston Churchill Bezug, der feststellte, dass wir zuerst unsere Gebäude entwerfen und diese dann im Gegenzug uns als Nutzer/innen formen. So ähnlich sei es auch mit Blick auf den Planeten Erde, den die Menschheit so massiv verändert habe, dass nun die menschgemachten planetaren Veränderungen, etwa des Klimas oder der Biodiversität, auf uns als Spezies Mensch zurückwirkten.
In der ersten Expertenrunde zum Thema "Kritische Infrastrukturen – wie verhindern wir Disruptionen?" diskutierten unter der Moderation von Dr. Michael Nentwich (ITA, Wien) die Podiumsgäste Dr. Petra Jonvallen vom schwedischen Riksdag, Jaro Krieger-Lamina vom ITA aus Wien, Katri Liekkilä vom finnischen Notfallversorgungsamt (National Emergency Supply Agency – NESA) sowie Gerhard Deimek, Abgeordneter des Österreichischen Nationalrates dazu, wie elementare Versorgungsdienstleistungen vor plötzlichen Ausfällen und Störungen geschützt werden können. Die Expert/innen hoben hervor, dass durch Vernetzung und Interdependenzen kritischer Systeme die Reichweite eines potenziellen Ausfalls steige. So würde unter anderem durch den (notwendigen) Umbau der Transportinfrastruktur hin zu nachhaltiger Elektromobilität sowie der Energieversorgung hin zu nichtfossilen Energiequellen die Abhängigkeit von verlässlichen Stromnetzen weiter erhöht. Risikomanagement und Resilienzförderung müssten daher Hand in Hand gehen. Beim Zuschnitt der Netze sei es sinnvoll, resilienzfördernde Maßnahmen zu ergreifen und das Risikomanagement von Beginn an in die Planung einzubeziehen. Dabei benötigten lokale und nationale Risikomanagementstrategien eine konstante Überarbeitung und Anpassung an veränderte Bedrohungslagen. Resilienzförderung sei jedoch keine ausschließlich infrastrukturelle bzw. materielle Aufgabe, sondern bestehe in wesentlichen Teilen auch in der Gewährleistung der Kontinuität kritischer Dienstleistungen und damit zusammenhängend in der kooperativen Krisenvorsorge zwischen privaten und öffentlichen Sektoren sowie in der Vorbereitung demokratischer Öffentlichkeiten auf mögliche disruptive Ereignisse. Bürger/innen, die auf Disruptionen vorbereitet seien und sich etwa im Fall eines Blackouts drei Tage lang selbst versorgen könnten, würden anders auf disruptive Ereignisse reagieren als gänzlich unvorbereitete Öffentlichkeiten. Neben der Stromversorgung seien auch der Wasserkreislauf und mögliche Folgen von Extremwetterereignissen wie Dürren oder Starkregen und Überflutungen zu bedenken. In der Debatte zeigte sich auch, dass verschiedene Länder und Regionen eigene, eventuell sehr unterschiedliche Antworten auf ihre jeweiligen Bedrohungslagen finden und dabei ihre verschiedenen geografischen, klimatischen, infrastrukturellen, sozialen und politischen Stärken und Schwächen reflektieren und gezielt aufgreifen müssen. Die Resilienz von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft kann auch durch bessere Vorhersagen von Krisen gefördert werden. Dazu stellte André Uhl vom Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) das Projekt "Krisenradar" des TAB vor. Darin wird untersucht, wie ein Krisenradar gestaltet und institutionell verankert werden müsste, um ein frühzeitiges Krisen- und Risikomanagement zu ermöglichen. Vier Säulen für die Entwicklung eines Krisenradars wurden identifiziert: das Lernen aus Frühwarnsystemen (z.B. mit Blick auf die Pandemieerfahrung), die vorausschauende Analyse von potenziell krisenhaften Gefahren in einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen, die institutionelle Einbindung von Früherkennungsinstrumenten sowie die Förderung von Resilienz im Rahmen gesellschaftlicher Transformationsprozesse.
In der zweiten Expertenrunde diskutierten unter Moderation von Linda Kool (Rathenau Instituut, Den Haag) die Podiumsgäste Maya Brehm vom Internationalen Komitee des Roten Kreuz (Schweiz), Prof. Chris Jenks von der Dedman School of Law der Southern Methodist University in Dallas, Texas, Prof. Dr. Cedric Ryngaert von der Universität Utrecht sowie Dr. Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr in München zum Thema "Autonome Waffensysteme – der Mensch im Fadenkreuz der Maschine". Dabei ging es zunächst darum, wie Expert/innen autonome Waffensysteme (AWS) definieren. Hier zeichnete sich ein Konsens dahingehend ab, dass AWS dadurch charakterisiert sind, dass sie Ziele identifizieren und diese angreifen können, ohne dass menschliche Interventionen nötig wären. Eigentlich, so die Schlussfolgerung, wäre Autonomie in Waffensystemen die treffendere Beschreibung, da die Funktionsweise der eigenständigen Zielauswahl und Zielbekämpfung in sehr verschiedene Waffentypen eingebaut werden könne, von Raketenabwehrsystemen bis hin zu Antipersonenwaffen oder Drohnenschwärme. Gefahren entstünden durch AWS unter anderem mit Blick auf die rechtliche und ethische Verantwortlichkeit, die Gefahr der Verdinglichung von Menschen in kriegerischen Konflikten, mit Blick auf globale Formen von Konfliktbewältigung sowie das Eskalationsrisiko bei bewaffneten Auseinandersetzungen. Bisherige menschenrechtliche Regulierungen scheinen keine ausreichende Antwort auf die Herausforderungen von AWS darzustellen, etwa zum Schutz von Zivilisten und zu den rechtlichen und sozialen Verantwortlichkeiten. Um diese Lücke zu füllen, könnte Deutschland zunächst eine nationale Regulierung zu AWS definieren und sich auf dieser Basis mit europäischen und internationalen Partnern sowie innerhalb der NATO über Vereinbarungen zu AWS verständigen. Dabei könne Deutschland die eigenen militärischen Kapazitäten aufbauen und zugleich AWS-Regulierungen anstreben, ohne dabei zwangsläufig an Verteidigungskraft einzubüßen. Insgesamt sollten der Diskurs und das weitere Vorgehen sich weniger von unrealistischen Szenarien, wie die häufig zur Illustration herangezogenen Killerroboter, lenken lassen, vielmehr sollte realistisch geschaut werden, was autonome und semiautonome Waffensysteme aktuell können, um auf dieser Grundlage Schritte zur Kontrolle und Regulierung zu ergreifen.
"Natur unter Druck – der Mensch als disruptive Kraft" war das Thema der dritten Expertenrunde mit Prof. Dr. Pierre Ibisch von der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde, Dr. Palle Madsen vom dänischen Forschungsinstitut InNovaSilva ApS und Dr. Somidh Saha vom Karlsruher Institut für Technologie unter Moderation von Dr. Helene Limén (Baltic Waters 2030, Stockholm). In dieser Themenrunde wurde die Menschheit selbst als die disruptive Kraft angesehen, die im Anthropozän durch Klimawandel und weitreichende Reduktion der biologischen Vielfalt globale Ökosysteme zum Negativen verändert und massive und abrupte Störungen in über lange Zeitphasen hinweg gewachsenen natürlichen Strukturen verursacht. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass es weltweit nur noch wenige Wälder gibt, die nicht durch menschlichen Einfluss geformt und verändert worden sind. Diese als Primärwälder bezeichneten, weitgehend unberührten Vegetationsareale existieren in Europa kaum noch; am häufigsten sind sie in Süd-, Mittel und Nordamerika sowie Sibirien zu finden. Konstatiert wurde zum einen, dass grundsätzlich eine (Wieder-)Aufforstung sowie ein umfassender Schutz bestehender Wälder dringend nötig sei, da diese wegen der Speicherung von Kohlenstoffdioxid, ihrer wichtigen Rolle im natürlichen Wasserhaushalt und ihrer Kühlungswirkungen sowie als Lebensraum für zahlreiche Arten wichtige Funktionen im Kampf gegen Klimawandel und Biodiversitätsverluste übernehmen. Zugleich wird aber Holz als nachhaltiger Rohstoff etwa für die Baubranche zunehmend wichtiger, sodass sich die Frage stellt, inwieweit Wälder durch wirtschaftliche Nutzung menschlichen Ansprüchen genügen bzw. durch gezielte Anpflanzungen neuer, vermeintlich dem Klimawandel besser trotzender Baumarten "anthropozänfest" gemacht werden können bzw. sollten: Sollte also der Mensch mit seinen wirtschaftlichen Bedürfnissen oder aber das Ökosystem Wald im Zentrum von Waldpolitik und Forstmaßnahmen stehen? Wie vulnerabel Wälder sind, zeigen nicht nur aktuelle Erfahrungen mit Waldbränden, Windbruch und massivem Schädlingsbefall, sondern auch die Schwierigkeiten, Wälder gezielt wieder aufzubauen und zu diversifizieren. Oft lässt sich die Abholzung oder Zerstörung nicht einfach rückgängig machen, zumal die vormals vorhandenen Nährstoffe durch den Vegetationsverlust aus dem Boden entwichen sind. Die Diskussion zeigte Differenzen hinsichtlich der Frage, wem der Wald „zu dienen habe“ und welche Maßnahmen zu seiner Nutzung und zu seiner Anpassung an zukünftige Klimata zulässig sind. Einigkeit herrschte jedoch im Wunsch, das Wissen über den Wald und seine Ökosysteme sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik und der Öffentlichkeit unter anderem durch intensivierte Forschung und vielfältigere Partizipation zu stärken.
Beim Abschlusspodium "Vom Rat zur Tat – Disruption aus Sicht von Abgeordneten" diskutierten die Mitglieder des Deutschen Bundestages und speziell der Berichterstattergruppe TA Dr. Holger Becker (SPD), Lars Rohwer (CDU/CSU), Laura Kraft (Bündnis 90/Die Grünen), Prof. Dr. Stephan Seiter (FDP), Prof. Dr.-Ing. habil. Michael Kaufmann (AfD) und Ralph Lenkert (Die Linke) gemeinsam mit Ausschussvorsitzendem Kai Gehring (Bündnis 90/Die Grünen) sowie dem Moderator Tore Tennøe (Teknologirådet, Oslo) darüber, welche Schlussfolgerungen aus den aktuellen Herausforderungen, Bedrohungslagen sowie vielgestaltigen Krisen für politische Entscheider/innen zu ziehen seien. Als wichtige Ressourcen zur Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Krisenmomente nannten sie neue Formen gesellschaftlicher Partizipation wie Reallabore oder Citizen Science, technologische Innovationen, die europäische Zusammenarbeit, durch Wissenschaft und Forschung bereitgestellte Erkenntnisse sowie die effiziente Verwendung vorhandener Ressourcen. Als Wünsche an die Technikfolgenabschätzung als wissenschaftlichen Ratgeber politischer Entscheider/innen formulierten die Abgeordneten die frühe Erkennung und Benennung von sich abzeichnenden Problemen, die neutrale, sachliche und ausgewogene Darstellung auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie eine besser wahrnehmbare, "laute" Öffentlichkeitsarbeit für die oft sehr guten Arbeiten und Ergebnisse von TA nach dem Motto "make some noise!". Zugleich solle TA darüber informieren, welche Kosten mit bestimmten Handlungsweisen und Entscheidungen bzw. mit dem Nichthandeln verbunden sind. Das bestehende Wissen solle geordnet und zugänglich gemacht werden und den Politiker/innen Strategien an die Hand gegeben werden, das bestehende Wissen zu sortieren und zu kanalisieren. Eine TA, die all diese Dinge leistet, könne die Politik befähigen, besser auf Worst-Case-Szenarien vorbereitet zu sein und besser handeln zu können. Zugleich müsse sich die Politik auch hinter der Wissenschaft versammeln, um diese insbesondere gegenüber radikalen gesellschaftlichen Strömungen zu schützen und Europa als Kontinent der Wissenschaftsfreiheit zu bewahren und zu stärken.
Die Konferenz hat folglich nicht nur eine Vielzahl von Themenbereichen im Feld von Disruption berührt und verschiedenste politische Lesarten und Zukunftsperspektiven zusammengebracht, sondern auch politische Entscheider/innen, Wissenschaftler/innen und Vertreter/innen der Zivilgesellschaft aus 19 Ländern miteinander ins Gespräch gebracht. Durch die Konferenz führte. Dr. Reinhard Grünwald vom TAB. Es war ein sehr anregender und im besten Sinne vielstimmiger Tag, zu dem alle Podiumsgäste, Moderator/innen, die Abgeordneten der Berichterstattergruppe TA des Deutschen Bundestages und, last but not least, der Ausschussvorsitzende Kai Gehring durch ihr Engagement und Wissen beigetragen haben.
Weitere Informationen und Impressionen
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